Das nachgebaute Potsdamer Glockenspiel ist ein bedeutsames Objekt der Zeitgeschichte
Potsdams umstrittenes Wahrzeichen. Das wissenschaftliches Gutachten von Dominik Juhnke Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam über die Geschichte des nachgebauten Glockenspiels der Garnisonkirche.
1. Die bisherigen Listen mit Glockeninschriften und Gewichtsangaben sind fehlerhaft.
Die Glockeninschriften vor Ort auf der Plantage sind nie mit den archivalisch überlieferten Listen
abgeglichen worden. Bisher kursierende Übersichten sind fehlerhaft. Auch die Gewichtsangaben
stimmen teilweise nicht mit den tatsächlichen Glockengrößen überein.
2. Die Glockeninschriften stammen von ihren jeweiligen Spendengemeinschaften und müssen im Kontext des Gesamtprojekts bewertet werden.
26 von 40 Glocken tragen Inschriften. Auf der Stiftertafel am Glockengerüst sind weitere 28 Namen oder Abkürzungen eingraviert. Verantwortlich für den Wortlaut der Inschriften sind in den meisten Fällen die jeweiligen Spender oder Spendengemeinschaften. Eine Liste aller Spender existiert nicht oder wird von
Max Klaar aus Datenschutzgründen nicht freigegeben. Viele Spender wollten anonym bleiben.
3. Die gusstechnische Qualität der Glocken ist als hoch einzuschätzen.
Der Glockenspielnachbau aus Iserlohn ist kein Carillon. Die Qualität der Glocken ist laut Experten als
hoch einzuschätzen. Der scharfe, blecherne Klang hat verschiedene Ursachen wie Aufhängung und
Anschlagtechnik. Im wiederaufgebauten Turm der Garnisonkirche wird das „Iserlohner Glockenspiel“
keine Verwendung finden. Die SGP strebt stattdessen einen historisch-informierten Neuguss des
Glockenspiels an.
4. Die beiden gespielten Melodien sind bekannte Volkslieder, die sich ebenfalls im historischen Kontext betrachten lassen.
Zwischen 1991 und 1993 gab es regelmäßig freie Konzerte auf dem Glockenspielinstrument, darüber
hinaus weitere Musikaufführungen nach Anfrage. Die beiden täglich per Automatik abgespielten Lieder
„Üb‘ immer Treu und Redlichkeit“ und „Lobe den Herren“ lassen sich ebenso wie die Glockeninschriften
historisieren. Es sind beliebte deutsche Volkslieder aus dem 18. bzw. dem 17. Jahrhundert, die in
verschiedenen historischen Zusammenhängen Verwendung fanden.
5. Das „Iserlohner Glockenspiel“ ist eng mit Max Klaar und dessen Weltbild verbunden.
Der gläubige Christ und Bundeswehroffizier Max Klaar ist die zentrale Antriebskraft für den Nachbau des
Potsdamer Glockenspiels. Sein Engagement für Potsdam ist aus seiner Biografie heraus zu verstehen.
Der Wiederaufbau der Garnisonkirche ist dem Preußenverehrer eine gottbefohlene Mission. Klaar
wusste, welche politische Brisanz sein Projekt birgt. Die 1991 von der größten Glocke entfernte
Deutschlandkarte mit den Grenzen von 1937 befand sich über der Inschrift „EINIGKEIT UND RECHT UND
FREIHEIT FÜR DAS DEUTSCHE VATERLAND“
6. Die Verbundenheit mit Preussen verbindet viele Gleichgesinnte des Glockenspielnachbaus.
Der Glockenspielnachbau ist ein Projekt konservativer Akteure aus Politik, Militär und Gesellschaft der
Bundesrepublik der 1980er Jahre. Zahlreiche Spender waren in Veteranenkameradschaften oder
Vertriebenenverbänden organisiert. Über die jeweiligen Vereinszeitschriften wurde Werbung für die
Spendensammlung gemacht. Ihre Ostpreußen-Nostalgie und Preußen-Romantik eint die Spender.
Zudem lässt sich die Projektunterstützung als nationalkonservativer Protest gegen das Verblassen der
Wiedervereinigungsziele und die politische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze in den 1970er Jahren
interpretieren.
7. Die Debatten um die Glockeninschriften reichen bis zurück nach Iserlohn.
Die Initiative zum Glockenspielnachbau ist in Iserlohn verwurzelt und erfuhr Unterstützung aus der
dortigen Bürgergesellschaft. Die erste Debatte über die Inschriften spielte sich bereits 1984 in der
regionalen Tagespresse ab. Ein kleines Geläut aus neun Glocken blieb 1991 in der Winkelmann-Kaserne
und steht seit 1996 auf dem Gelände des Iserlohner Schützenvereins. Auf dem Neunergeläut befinden
sich vier in Potsdam vermutete Glockeninschriften sowie die angeblich beschliffene „WESTPREUSSEN“-
Glocke. Wetterfahne, Uhr und Predigtpult von 1986 sind ebenfalls noch in Westfalen.
8. Der Potsdamer Umgang mit dem Glockenspielnachbau ist zwiespältig.
Die Glockenspielkopie wurde der Stadt Potsdam 1991 nicht aufgezwungen. Die politischen
Entscheidungsträger zeigten sich argwöhnisch gegenüber der Initiative und nahmen den Protest gegen
die Stifter und mögliche Probleme mit den Inschriften wahr. Die städtische Identitätssuche, das
Bekenntnis zur historischen Rekonstruktion der Potsdamer Mitte sowie ein gewisser Geltungsdrang
führten dazu, dass man dem Glockenspielnachbau und seinen Stiftern eine Bühne zur Einweihung bot.
9. Der spendenfinanzierte Nachbau des Potsdamer Glockenspiels ist kein Solitär.
Zur Iserlohner Glockenspielinitiative gibt es aus der gleichen Zeit mehrere verwandte Projekte. Die
Miniatur des Garnisonkirchenturms aus Bonn ist eine verkleinerte Kopie des einstigen Potsdamer
Wahrzeichens (1980), das Glockenspiel im Kirchturm von St. Peter und Paul auf Nikolskoe hat ebenfalls
das Originalinstrument zum Vorbild (1985) und auch der Carillon im Tiergarten ist eine Reminiszenz an
die berühmten Glockenspiele in Potsdam und Berlin (1987).
10. Das „Iserlohner Glockenspiel“ ist Teil der Potsdamer Geschichte.
Das nachgebaute Potsdamer Glockenspiel ist ein bedeutsames Objekt der Zeitgeschichte. Zum
zukünftigen Umgang gibt es verschiedene Vorschläge. In Potsdam sollte ein Interesse an Aufklärung
darüber bestehen, wer im öffentlichen Raum mit Erinnerungszeichen und Inschriften geehrt wird.
Eingebettet in seinen historischen Kontext und als Teil einer Erinnerungslandschaft kann das stumme
Instrument ein unbequemes obgleich unkonventionelles Wahrzeichen der Landeshauptstadt bleiben.